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Silberdistelköpfe, Foliendruck, Bauerleinen aus Graubünden,
130 x 110 cm, 2016

Fibonaccis Tanz

Graubünden 2016. Einladung zum ‚artist in residence‘ Programm `kunstluft.ch

Von Mitte Mai bis Mitte Juni lebte und arbeitete ich auf einem Maiensäss (eine Sonderform der Alm / Alp: eine gerodete Fläche mit Hütten und Ställen ) oberhalb des Dorfes Conters.

Beim Erkunden der Umgebung kullerte mir meine Herausforderung regelrecht vor die Füße: nachdem der Schnee erst vor kurzem verschwunden war, fanden sich an den Hängen die Blütenköpfe der Silberdisteln des vergangenen Jahres.

Schon oft hatte ich die stachelig-silbrigen Blüten gesehen. Nun war ich gerade zu jener Zeit vor Ort, in der sich die Blütenköpfe durch den Vermoderungsprozess aus ihrer stacheligen Hülle heraus gelöst hatten. Von oben betrachtet hielt ich ein struppiges, zerzaust aussehendes Etwas in den Händen. An der Rückseite – dem Blütenboden – fand sich eine Schönheit, die mich vom ersten Blick an faszinierte: viele kleine Öffnungen ließen das Licht durchscheinen.

Immer wieder hielt ich die Rückseite der Disteln vor das Bergpanorama und konnte mich nicht satt sehen. Wie ein Tanz schienen die Öffnungen einem geheimen Rhythmus zu folgen ...

... und plötzlich war in meinem Hirn das Wort „Fibonacci Zahlen“ (ich hatte von diesem Phänomen im Zusammenhang mit der Anordnung der Sonnenblumenkerne gehört).  Ich lernte, dass die Fibonacci-Folge (unter anderem) Wachstumsvorgänge von Pflanzen beschreibt und sich in vielen Naturphänomen zeigt: sich aufrollende Farnwedel, die Windung der Schneckenhäuser – und eben auch in den Blütenköpfen der Silberdisteln:

„Beispielsweise tragen die Körbe der Silberdistel (Carlina acaulis) hunderte gleich gestaltiger Blüten, die in kleineren Körben in einer 21-zu-55-Stellung, in größeren Körben in 34-zu-89- und 55-zu-144-Stellung in den Korbboden eingefügt sind.“

G. Hegi: Illustrierte Flora von Mitteleuropa.

Welch ein Zauber! Eine mathematische Zahlenreihe, die sich in den Köpfen der Silberdisteln findet!

Stunde um Stunde ging ich die steilen Hänge ab und sammelte die fragilen Blütenköpfe. Stunde um Stunde saß ich auf der Bank vor dem Maiensäß und putzte diese. Stunde um Stunde übertrug ich die Fibonacci-Folgen auf den Mantelstoff.

Diesen hatte ich bei der Schneiderin im Tal gefunden; ein ungebleichtes Bauernleinen, welches ursprünglich für die Anfertigung der Trachten stammt.

... und wenn ich ihn mir so anschaue, den Mantel mit den Silberdisteln, die ihr Geheimnis in sich tragen, so könnte ich mir vorstellen, dass Fibonacci tanzt ...