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Schmirgelpapier aus der Holzwerkstatt des St. Josefshauses, genäht, 125 x 115 cm, 2006

Es scheuert

Für ein Kunstprojekt mit Bewohnern des St. Josefshauses in Herten (Schule, Wohngruppen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen) war ich dort für eine Woche zu Gast.

Es war berührend, intensiv und herausfordernd zugleich. Es gab viele Begegnungen, die jenseits der ‚gängigen sprachlichen Verständigung‘ stattfanden.

In der Holzwerkstatt sah ich Bewohner mit Schmirgelpapier verschiedene Holzobjekte bearbeiten: die Idee zu „Es scheuert“ war geboren. Die Mitarbeiter der Holzwerkstatt sammelten über Monate dieses Schmirgelpapier. Viele der Papierstücke zeigen die unregelmäßigen Spuren der Bearbeitung mit der Hand, weisen Löcher und Risse, Knicke und Faltungen auf. Die Stücke der maschinellen Schleifpapierbänder lassen regelmäßige Abriebspuren erkennen und sind nie durchgescheuert.

Aus meinem Berührt sein – Leichtes, Heiteres, aber auch Schweres und Scheuerndes fand sich nahe beieinander – entstand ein besonderer Mantel.

Beim Nähen mit der Nähmaschine kam diese an ihre Grenzen. Sie wollte dieses dicke und raue Material nicht transportieren. Erst die Bearbeitung des Nähmaschinenfußes führte zum Erfolg.
Beim Ringen mit der Materie zeigte sich:

Scheuern. Es scheuert. Scheuermantel. Den Boden scheuern.
Das ist das Grobe.

Schmirgeln. Schon das Wort klingt spitz und unangenehm.
Das sind die feinen Teile.

Diese Tätigkeiten benötigen Kraft, Konzentration.
Es ist kein ‚leichtes Darüberwischen‘.
Es entsteht Reibung. Wärme.
Die Dinge bleiben nicht so wie sie sind.
Scheuerspuren sind sichtbar. Die Zeit glättet.
Es benötigt viele Schleifprozesse mit immer feinerer Körnung
für eine glatte Oberfläche.

Scheuern heißt auch: ich trete in Beziehung.
Schmirgeln heißt auch: ich lasse mich an-rühren.

Es fanden sich einige wenige goldgelbe Stücke im Berg des gesammelten Materials. Daraus entstand in der Herzgegend ein Kreuz. Hell leuchtet es in all dem Braun-Rot des „Scheuermantels“.

2017 Ausstellung im Hospiz St. Martin / Stuttgart
In diesen Räumen spricht der Mantel eine ganz neue Sprache. Schön anzusehen ist er nicht, obwohl das erdige Rotbraun versöhnlich stimmen mag.

Von den Leitenden der im Haus stattfindenden Trauergruppen hörte ich, dass sich viele Trauende mit genau diesem Mantel identifizieren konnten. „Wir sind scheuerig geworden“; unsere Umgebung hat Mühe mit uns umzugehen.“ „Ja, es scheuert die ganze Zeit. Eigentlich ist das Schmirgelpapier inwendig ...“.

Eine vertiefende Sichtweise zum Thema „palliative Spiritualität in der Hospizarbeit“
(pallium lat.: der Mantel) findet sich im Buch „Hülle und Fülle“ von Frau Barbara Hummler Antoni, Kunsttherapeutin und Frau Dr. Angelika Daiker, Theologin.
Erschienen im Patmos Verlag
https://www.patmos.de/huelle-und-fuelle-p-8873.html