Nesselhemd
Im Märchen ‚Die wilden Schwäne‘ von Hans Christian Andersen hören wir von Elise, einer vom Hof verstoßenen Königstochter, die in einer Höhle im Wald lebt. Dort erfährt sie durch einen Traum, wie sie ihre zwölf Brüder, welche durch einen bösen Zauber in Schwäne verwandelt wurden, erlösen kann: sie muss Hemden aus Brennesseln flechten und darf bei deren Herstellung kein Wort sprechen.
Aus ‚Die wilden Schwäne‘ von Hans Christian Andersen:
„ ... Deine Brüder können erlöst werden!“, sprach sie. „Hast Du aber auch Mut und Ausdauer? Wohl ist das Meer weicher als deine feinen Hände und formt doch die harten Steine um, aber es fühlt nicht den Schmerz, den deine Finger fühlen werden; es hat kein Herz, leidet nicht die Qual, die du aushalten musst. Siehst Du die Brennnesseln, die ich in meiner Hand halte? Von desselben Gattung wachsen viele um die Höhle, in welcher Du schläfst. Nur diese und solche, die aus den Gräbern des Friedhofs hervorsprossen, sind brauchbar. Merke dir: diese musst du pflücken, wenn sie deine Hand auch voll Blasen brennen werden. Brichst du nun die Nesseln, so erhältst du Flachs, aus dem du elf Panzerhemden mit langen Ärmeln flechten und binden musst; wirf diese über die elf Schwäne, so ist der Zauber gelöst. Aber sie dessen eingedenk, dass du von Beginn bis Beendigung dieser Arbeit, und sollten Jahre dazwischenliegen, nicht sprechen darfst; das erste Wort, das über deine Lippen geht, fährt wie ein tödlicher Dolch in das Herz deiner Brüder; an deiner Zunge hängt ihr Leben. Merke dir dies alles!“
Dieses Motiv des Mädchens, welches in der Waldhöhle lebt und dort die schier unlösbare Aufgabe zu vollbringen sucht, wurde sehr lebendig in mir, nachdem ich einige Zeit in den USA gelebt hatte und zurückgekehrt – mit zerzausten Flügeln – hier wieder mich beheimatete.
Ich hatte von der Herstellung von feinem Tuch aus Nesseln gehört, welches durch seine große Dichte und den edlen Glanz begehrt war, doch ich wusste, dass jene Elise in der Abgeschiedenheit des Waldes keinen Webstuhl zur Anfertigung zu besitzen würde.
Wie ließe sich mit einfachsten Mitteln ein Gewebe in Hemdenform aus Nesseln herstellen? Langstielige Brennesseln klopfte ich zwischen zwei Steinen flach und verwob die Stängel zu einem Kreuzgewebe. Später musste ich die Fasern immer wieder anfeuchten, um ihre Geschmeidigkeit zu bewahren und sie vor dem Brechen zu schützen.
In noch feuchten Zustand konnte ich das Nesselhemd anziehen; es erinnert an Bußgewänder wie sie von Elisabeth von Thüringen oder Franz von Assisi bekannt sind.
Berührt hat mich Jahre später die Entdeckung der Darstellung des Paulus auf dem Isenheimer Altar in Unterlinden. Die Geschichte erzählt, dass er als Einsiedler lebte – und sein überaus detailliert gemaltes Gewand aus Pflanzenfasern erinnert mich sehr an das aus Brennnesselstängeln gewebte.