Hauszeichengwand
Graubünden 2016. Einladung zum ‚artist in residence‘ Programm `kunstluft.ch‘
Von Mitte Mai bis Mitte Juni lebte und arbeitete ich auf einem Maiensäß (eine Sonderform der Alm/Alp: eine gerodete Fläche mit Hütten und Ställen) oberhalb des Dorfes Conters.
Über Haustüren und Ställen entdeckte ich ins Holz geschnittene Jahreszahlen, dazu mir unbekannte Zeichen.
Von den Einheimischen erfuhr ich, dass es sich um „Hauszeichen“ handelt. Jeder Hof, jede Familie hatte „ihr Zeichen“, mit welchem die Gerätschaften und der Besitz kenntlich gemacht wurden.
Über eine kleinhügelige, Landschaft mit vielem Auf- und Abs wandere ich auf der Suche nach Zeichen an Höfen und Ställen. Jedes Mal war es eine Überraschung, wenn ich fündig wurde. Bei dieser „Spurenlese“ übertrug ich die ins Holz geschnittenen Zeichen auf Papier.
Es war berührend, die Jahreszahlen abzureiben.
Ein intimer Moment: jemand hat vor mir mit dem Stechbeitel oder Messer diese Zahl, dieses Zeichen ins Holz geschnitzt, nun fährt mein Stift über das Papier, die Hand nimmt die Einkerbungen und Maserung des Holzes wahr. Die älteste Jahreszahl, die ich abreibe stammt von 1557. In dieser Berührung findet sich eine Brücke über die Zeit hinweg.
Die Idee wuchs in mir, diese Zeichen auf altes Leinen zu übertragen und daraus einen Mantel entstehen zu lassen.
Die in früherer Zeit sicher männliche Aufgabe der Holzbearbeitung, des Kerbens und Schnitzens würde ihr Pendant finden durch die den Frauen zugedachte Arbeit des Nähens und Stickens.
In den archaischen Kulturen – auch im bäuerlichen Kontext – besteht ein tiefes Wissen um die Arbeitsteilung und das Aufeinander angewiesen sein.
Zu einem gelingenden Miteinander benötigt es die Fertigkeiten der Frauen und die der Männer. C. der in Conters lebt, berichtete, dass man hier in dieser dörflichen Gemeinschaft aufeinander angewiesen sei; man müsse miteinander klarkommen – ob man wolle oder nicht. Es gäbe keine Ausweichmöglichkeit.
Ich begann zu sticken – voller Respekt für all die Frauen, die nicht die Wahl haben oder hatten, ob sie solche – eher weiblichen – Arbeiten machen wollen oder nicht. In Gedanken an unsere (Ur-) Großmütter, die sich mit dem Herstellen der Aussteuer beschäftigen mussten, ohne die kein anständiges Mädchen „unter die Haube kam“.
Eine sehr berührende Erinnerung: an einem Abend trafen sich Frauen aus Conters um mich bei der aufwendigen Stickarbeit zu unterstützen. Wir kannten uns nicht, hatten etwas zu Essen und zu Trinken dabei, und dann geschah etwas Uraltes: in der gemeinsamen Stickarbeit flogen die Worte nur so hin und her, wir lachten miteinander und arbeiteten an einem großen Ganzen.
Herzensdank an die wunderbaren Frauen aus Conters!
... doch noch waren längst nicht alle übertragenen Hauszeichen gestickt! Vollendet wurde der Mantel unter der Mitwirkung von fünf Frauen, die erst seit kurzem in Deutschland angekommen waren und im Flüchtlingsheim wohnten. Alle waren vertraut mit Stickarbeiten – und so findet sich manch wunderbarer Stickstich aus anderen Kulturen in diesem Hauszeichengwand aus Conters. Auch hier: mein Herzensdank!