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Weißt Du wie viel

Projektvorhaben:

Eine mächtige Eiche wächst vor der Villa. Unterhalb des Baumes habe ich mit rot-weißem Band einen Kreis von der Größe der Baumkrone abgesteckt. Täglich harke ich das herabgefallene Laub innerhalb dieses Kreises und zähle die Eichenblätter, bevor ich sie zum Kompost trage. Stellvertretend wird ein Blatt herausgegriffen, mit dem Datum und der Anzahl der an diesem Tag gefallenen Blätter versehen. Notizen von Naturbeobachtungen, Begegnungen und Beobachtungen begleiten dieses Projekt.

Projektzeit:

Am 22. Oktober (meinem Geburtstag) werde ich mit der Blattzählung beginnen; meine Aufzeichnungen dann beenden, wenn (fast) kein Blatt mehr am Baum hängt. Ich rechne damit, bis ins Frühjahr am Zählen zu sein. Aus eigener Beobachtung weiß ich, dass Eichen sehr spät und ihre Blätter abwerfen.

Tatsächliches Ende: In diesem Jahr hat die Eiche sich ungewöhnlich zeitig ihrer Blätter entledigt; ich beende die Zählung am 31. Dezember 2001.

Projektort:

Park der Villa Aichele in Lörrach

In Anlehnung an das Kinderlied habe ich den Titel "Weißt Du wie viel" gewählt. Dabei wird deutlich, dass es bei dieser Arbeit nicht um die Ermittlung genauester "Blatt-Werte" gehen wird - oder wie der Physiker Heisenberg feststellte: „Der Vorgang des Aufzeichnens (Messens) verändert die Wirklichkeit.“

Projektzeit:

Am 22. Oktober (meinem Geburtstag) werde ich mit der Blattzählung beginnen; meine Aufzeichnungen dann beenden, wenn (fast) kein Blatt mehr am Baum hängt. Ich rechne damit, bis ins Frühjahr am Zählen zu sein. Aus eigener Beobachtung weiß ich, dass Eichen sehr spät und ihre Blätter abwerfen.

Tatsächliches Ende: In diesem Jahr hat die Eiche sich ungewöhnlich zeitig ihrer Blätter entledigt; ich beende die Zählung am 31. Dezember 2001.

Projektort:

Park der Villa Aichele in Lörrach

In Anlehnung an das Kinderlied habe ich den Titel "Weißt Du wie viel" gewählt. Dabei wird deutlich, dass es bei dieser Arbeit nicht um die Ermittlung genauester "Blatt-Werte" gehen wird - oder wie der Physiker Heisenberg feststellte: „Der Vorgang des Aufzeichnens (Messens) verändert die Wirklichkeit.“

Auszüge aus meinen täglichen Notizen:

20. Oktober 2001

Ein älteres Paar mit Hund fragt nach dem, was ich tue. Sie: "...das sind ja Tausende, Millionen von Blättern. Die kann man ja gar nicht zählen!" Im Gespräch erwähne ich, anfänglich überlegt zu haben, den Baum mit Netzen zu umspannen, um eine möglichst genaue Zahl zu erhalten. Diese Genauigkeit scheint den Mann sehr zu faszinieren. "…ja, so hätten Sie das machen müssen!", äußert er nachdenklich.

23. Oktober 2001 / 9400 Blätter

Ich fange an zu zählen: eins, zwei, drei… Die Ahnung, auf welches zeitliche und zahlenmäßige Unterfangen ich mich eingelassen habe, lässt mich schlucken. Zählender Weise müsste ich ganze Tage verbringen. Einige Blätter sind nur noch in Teilen vorhanden. Ratlosigkeit – von Blätterhaufen umgeben. Ich muss (m)ein Maß finden! Ich kaufe einen gelben Putzeimer und Gummihandschuhe. Hundekot und andere unappetitliche Dinge mischen sich unter die Blätter. Mehrmals zähle ich Blatt für Blatt in den gelben Eimer, fülle diesen bis zur Markierung. Aus Liebe zur italienischen Sprache lege ich als (m)eine Maßeinheit fest: „un barattolo“ (ital.: Dose, Büchse) entspricht 400 Eichenblättern in trockenem Zustand! 38 Eimer zähle ich und 1350 Einzelblätter.

Begegnung:
Ganz vertieft in meine Arbeit sitze ich blattzählend auf dem Boden. Bemerke aus den Augenwinkeln, wie sich etwas bewegt – ein Rotkehlchen hüpft in ca. 1,50 m Entfernung vor mir herum. Schwarze Knopfaugen. Ich zähle langsam weiter; trotz meiner Bewegung bleibt es ganz nahe – minutenlang.

31. Oktober 2001 / 1185 Blätter

Wenige Blätter. Zwei Eimer und 385 von Hand auf dem Kiesweg „aufgepickt“. Komme mir vor wie ein Huhn; erst recht, als eine Frau nahe an mir vorbeiläuft und ich ihre Beine aus dieser Perspektive sehe.

Eine ältere Frau, die mein Tun schon seit einiger Zeit beobachtet, fragt, was ich da machen würde. Auf meine kurze Erklärung erwidert sie nicht unfreundlich, nur mit Bestimmtheit - und wie mir scheint, etwas überlegenem Tonfall in der Stimme: „Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet; ich meine eine produktive Arbeit, an Maschinen und so.“ Ihr Blick verliert sich in der Ferne: „Habe Zeitung ausgetragen. Bei Wind und Wetter. War schlecht bezahlt aber eine gute Zeit. Mir hat nichts gefehlt.“ Gedanken darüber, was wir zu „produktiver Arbeit“ zählen. Wer bin ich ohne „produktive Arbeit“ und woraus beziehe ich meinen Wert?

6. November 2001 / 7100 Blätter

Harke gegen die Dämmerung an. Die Farben schwinden, auch die Grasstruktur verblasst. Ich harke über eine graubraune Masse; nur die hellen Blattunterseiten heben sich ab. Leichter Nieselregen. Unter den noch dichtbelaubten Ästen spüre ich ihn kaum. Ich tue meine Dinge. Es ist unwichtig, ob ich die Tätigkeit mag oder nicht, sie sinnvoll ist oder nicht. Die letzten Reste der Blatthaufen „harke“ ich mit meinen behandschuhten Fingern zusammen. Das Geräusch von Kies, der mit den Blättern in den Eimer fällt.

13. November 2001 / 1400 Blätter

Feuchtigkeit in der Luft. Nässe am Boden. Das feuchte Laub, auf der feuchten Erde liegend, scheint schon fast in diese überzugehen. Das Vermodern, die Verwandlung ist mir hier zum Greifen nahe. Nachdem ich meine Runde geharkt habe, könnte ich von neuem beginnen. Wie willkürlich und ausschnitthaft-begrenzt sind all’ meine gedanklichen Festlegungen.

4. Dezember 2001 / 163 225 Blätter

Blätter über Blätter. An einem einzigen Tag hat die Eiche mehr Blätter abgeworfen, als in den vergangenen anderthalb Monaten! Ich fülle Eimer. Ich fülle Säcke.

Am Abend werden es 160 „barattoli“ sein und 141 „barattoli bagnati“; über fünfzehn gefüllte Säcke und 525 handverlesene Blätter. Die abgesteckte Fläche scheint riesig zu sein. Das Spielerische verschwindet; fühle mich fast ertrinkend in Blättermassen. Eichin ringt mit der Eiche. Amüsement ob solchen Irrsinns scheint in der Luft zu liegen. In kleinen Stücken lege ich unbelaubte Erde frei. Der Boden ist feucht, dunkel, aufgeweicht. Nur wenige Gräser- sie erinnern mich an das Haupt eines Greises, dem die Haare ausfallen; der Schädel, der Tod wird sichtbar.

Stunden harke ich, die mir zeitlos erscheinen. Es wird dämmerig. Es wird dunkel. Ich fühle mich alleine. Trage immer wieder die gefüllten Säcke an das andere Ende des Parks, wo ich sie entleere. Das feuchte Laub ist schwer. Ein böiger Wind fährt in meine geharkten Blatthaufen. Viele Blätter flattern davon; kann ihnen nur nachschauen und lächeln. Von oben fallen ständig neue Blätter nach. Es ist mir heut nicht möglich, „sauber“ zu harken.

8. Dezember 2001 / 7175 Blätter

Gibt es eine Steigerung von „nackt“? Entblößt? So erscheint mir der mächtige Baum. Der anhaltende, böige Wind hat viele Eichenblätter davongeweht - außerhalb der zählbaren Begrenzung. Ich stehe stille, auf die Harke gelehnt – eine große Heiterkeit erfüllt mich. Blattfüßchen trollen sich eiligst davon und bringen mich zum Lachen.

9. Dezember 2001 / 449 Blätter

Sonntagmorgen.
Schräg fallen die Sonnenstrahlen durch die Parkbäume. Gefroren hat es. Die Luft ist erfüllt von Feuchtigkeit. Die Blätter haben Eiskristallränder. Kaum werden die zarten Kristallschichten von der Sonne berührt, schon sind sie weggetaut. Fortwährend fallen Blätter zu Boden.

„Lautlos und sachte.“ Mein Inneres scheint nur aus diesem Bild zu bestehen. Beim Erlernen einer fremden Sprache gibt es einzelne Worte, die untrennbar mit einer bestimmten Situation verbunden sind, in welcher sie zum ersten Mal gehört oder wahrhaft begriffen werden. So scheinen sich die Worte „sachte und lautlos“ in mir zutiefst mit diesem Licht, dieser Atmosphäre und dem fallenden Eichenlaub zu verbinden.

21. Dezember 2001 / 34 Blätter

Schnee-Zeichnungen
Abdrücke von Hundepfoten, Hundepfötchen, Hunde-Gebuddel, Eichhörnchenpfötchen in Stammnähe, Kinderschuhe, zarte Furchen von darüber gewehten kleinen Zweigen. Im Nord-Osten des Kreisradius ist die Schneedecke nur zart ausgebreitet. Weiße, kleine Schneepigmente wechseln sich mit zart-grünen Halmlinien ab. Es flirrt mir vor Augen.

26. Dezember 2001 / 173 Blätter

Der Schnee ist geschmolzen; wässrige Erde, die in den Rillen meiner Sohlen haften bleibt. Finde mehrere Eicheln, die ihre Wurzeln in die weiche, wässrige Erde getrieben haben. So leise geschehen die kostbaren Dinge.