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Leinenstoffe gefärbt mit Naturpigmenten, Goldkordel, schmale Taschen zum Befüllen, 138 x 111 cm, 2016

Martinusmantel

Der Martinusmantel entstand als Auftragsarbeit der Diözese Rottenburg / Stuttgart zur Eröffnung der Mittelroute des Martinusweges. Dieser führt von Szombathely in Ungarn (Geburtsort) bis nach Tours in Frankreich (hier hatte Martinus das Amt eines Bischofs inne).

Die Grundform dieses Mantels ist eine althergebrachte, archaische, welche sich in verschiedenen Kulturen findet: es ist eine einfache T-Form, welche sich aus den handgewebten Stoffbahnen der bäuerlichen Kulturen entwickelte und möglichst wenig „Stoff-Verschnitt“ mit sich brachte.

Zwischen der „linken Herzseite“ und den beiden rechten Stoffen findet sich eine Schnürung. Hier sind die Stoffbahnen nicht vernäht, sondern mit einer goldenen Kordel verbunden. Es wird in diesem Detail ein zentrales Motiv aus dem Leben des Martin von Tours sichtbar: die „Mantelteilung“.

Aus meiner Rede zur Mantelübergabe am 26.10.2016

„ ... am Sonntag begegnete ich dem Martinusmantel in Rottenburg wieder. Fast 1 Jahr hat seine Entwicklung und die Arbeit an ihm gedauert. Es war für mich berührend ihn verändert zu sehen und die Spuren seiner Reise zu entdecken ...

... In meiner künstlerischen Arbeit beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit dem Thema Hüllen und Häute. Es entstanden Mäntel aus verschiedenen Materialien:
Brennnesseln und Maisblättern, Stacheldraht und Geldscheinen, 1000 gefaltete Kraniche – wenn Menschen diesen Kranichmantel sehen sagen sie: wie schön.

Die Kraft des Martinusmantels ist für mich eine andere.
Es ist für mich ein Mantel

  • der mich herausfordert, genau hinzuschauen und mich nicht in Äußerlichkeiten zu verlieren
  • der mich daran erinnert, die Herzensseite nicht außer Acht zu lassen
  • der mich knetet und ermuntert - mich auch unbequemen Fragen zu stellen
  • der von Teilung spricht und davon, dass etwas heil wird

Wenn Sie mich fragen, was mich an der Arbeit am Mantel am meisten umgetrieben hat, so muss ich sagen:
Der Riss, der durch den ganzen Mantel geht - und die goldene Kordel, welche die Mantelhälften verbindet. Ich glaube, dass Risse uns tief in unsere Menschlichkeit hineinführen. Wir entdecken sie bei uns. In unseren Lebensgeschichten. Beim anderen. Beim Ansehen der Welt.

In der japanischen Teezeremonie wird Tee aus wertvollen Schalen getrunken. Wenn eine solche zu Bruch geht, wird sie sorgfältig geklebt; die Risse in der Schale werden vergoldet und sind somit deutlich sichtbar. Eine solche Schale gilt als besonders kostbar. Für mich bedeutet der Riss im Martinusmantel: Keine Angst zu haben, die „Lebensrisse“ und Narben anzuschauen; achtsam einander anzuvertrauen und zu zeigen.

In der Wund- (und Seelen-) Pflege ist es für die Gesundung sogar unabdingbar, dass Risse und Verletzungen angeschaut und sorgsam gepflegt werden, damit sie heilen können ...

Im Atelier mit Achim Wicker, dem Geschäftsführer der Martinusgesellschaft.

Auf der linken Seite des Martinusmantels - der Herzensseite - finden sich 22 eingenähte Taschen, von außen als Schlitze im Gewebe wahrnehmbar. Der Mantel ging sozusagen als „Rohdiamant“ auf Reisen. Als ich ihm am Sonntag mit Wegmarken gefüllt sah, wusste ich:
erst jetzt zeigt er sich in seiner Kraft.

Von den beigegebenen Wegmarken sehen sie nur ein kleines Stück. Der größte Teil ist nicht sichtbar; er ist geborgen im Inneren des Mantels. Es sind kleine Dinge, die sich in den Plexiglasröhrchen finden, aber Sie werden beim Betrachten spüren, wie achtsam sie ausgewählt wurden. In manchen Taschen findet sich Papier als Träger von Gebeten, Wünschen und ganz persönlichem Ausdruck. Es ist wohl kein Zufall, dass sich in mehreren Wegmarken „Samenkörner“ finden.“

Der gefertigte Mantel fand seine ganz individuelle Erscheinung auf seiner Reise und durch viele Wegmarken, welche an den Etappen in ihn eingefügt wurden.

Das Element des „Werdens“ wird sichtbar und: ich bin nicht alleine unterwegs. Es gibt Wandernde, Suchende, Findende, Fragende vor und nach mir. Das große Ganze gestaltet sich aus einzelnen Teilen und ist mehr als deren Summe. Es benötigt seine Zeit, damit - durch das Unterwegs sein – etwas seine Gestalt findet.